Bau-, Architekten- und Immobilienrecht.
IBR 5/2020 - Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
im Bauvertragsrecht waren viele Rechtsfragen rund um den Entschädigungsanspruch des Auftragnehmers aus § 642 BGB ungeklärt. Das lag wohl (auch) daran, dass die Vorschrift nach der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im VOB/B-Vertrag von § 6 Abs. 6 VOB/B verdrängt wurde (BGH, NJW 1985, 2475). Das hat sich erst durch die BGH-Entscheidung vom 21.10.1999 ( IBR 2000, 217) geändert. Seither ist § 642 BGB neben der Regelung des § 6 Abs. 6 VOB/B anwendbar. Allerdings hat das lange Schattendasein, das § 642 BGB fristen musste, dazu geführt, dass sich „früher“ weder die Rechtsprechung noch die Literatur mit den Tatbestandsvoraussetzungen und den Rechtsfolgen der Norm näher befasst haben. Eine der wenigen Ausnahmen bildet lediglich das transportrechtliche Urteil des LG Stuttgart vom 10.10.1990 (IBBRS 1991, 003). In den ersten baurechtlichen Entscheidungen zu § 642 BGB wurde sich nach dem Motto „Kennen wir nicht, wollen wir nicht“ mit der Entschädigung nicht näher auseinandergesetzt, sondern der vom Auftragnehmer geltend gemachte Anspruch wegen Bauzeitverzögerungen wurde unter Hinweis auf die im Zusammenhang mit § 6 Abs. 6 VOB/B bekannte und stets fehlende „konkrete bauablaufbezogene Darstellung“ abgewiesen.
Erstmals nach seinem o. g. Urteil vom 21.10.1999 hatte der Bundesgerichtshof im Jahr 2008 Gelegenheit, Licht ins Dunkle zu bringen und klargestellt, dass einer gem. § 642 BGB zu zahlenden Entschädigung eine steuerbare Leistung zu Grunde liege. Der Auftragnehmer werde dafür vergütet, dass er für den Auftraggeber Kapital und Arbeitskraft bereithalte ( IBR 2008, 202). Knapp zehn Jahre später hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 20.04.2017 entschieden, dass es – vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen – keine dem Auftraggeber obliegende Mitwirkungshandlung ist, während der Dauer des Herstellungsprozesses außergewöhnlich ungünstige Witterungseinflüsse auf das Baugrundstück in Form von Frost, Eis und Schnee, mit denen nicht gerechnet werden musste, abzuwehren ( IBR 2017, 302). Im gleichen Jahr wurde die bis dahin umstrittene Frage, für welchen Zeitraum die Entschädigung gewährt wird, höchstrichterlich dahingehend beantwortet, dass der Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB nicht die Mehrkosten wie gestiegene Lohn- und Materialkosten umfasst. Diese fallen zwar aufgrund des Annahmeverzugs des Auftraggebers infolge Unterlassens einer ihm obliegenden Mitwirkungshandlung, aber erst nach dessen Beendigung an, nämlich bei Ausführung der verschobenen Werkleistung (BGH, IBR 2017, 664). Zudem wurde klargestellt, dass sich die Entschädigungshöhe nach der Höhe der vereinbarten Vergütung richtet und auch die in dieser Vergütung enthaltenen Anteile für Wagnis, Gewinn und Allgemeine Geschäftskosten umfasst ( IBR 2017, 666).
Offen war aber nach wie vor, wie die Höhe der Entschädigung genau berechnet wird. Hierzu wurde – mitunter sicherlich auch interessengeleitet – nahezu alles vertreten: von einem Anspruch auf „volle“ Vergütung abzüglich Ersparnissen bis hin zu einem bloßen Zinsanspruch. Die Diskussion hat nunmehr ihr Ende gefunden. Denn der Bundesgerichtshof hat am 30.01.2020 entschieden, dass § 642 BGB eine Abwägungsentscheidung des Tatrichters auf der Grundlage der in § 642 Abs. 2 BGB genannten Kriterien erfordert. Dabei ist die angemessene Entschädigung im Ausgangspunkt an den auf die unproduktiv bereitgehaltenen Produktionsmittel entfallenden Vergütungsanteilen einschließlich der Anteile für Allgemeine Geschäftskosten sowie für Wagnis und Gewinn zu orientieren ( S. 229). Die Darlegungs- und Beweislast für die in § 642 Abs. 2 BGB genannten Kriterien trägt nach allgemeinen Grundsätzen der Auftragnehmer als Anspruchsteller, der die Tatsachen für die vom Tatrichter vorzunehmende Abwägungsentscheidung beizubringen hat ( S. 230). Anrechnen lassen muss er sich in diesem Zusammenhang jeden anderweitigen Einsatz der Produktionsmittel ( S. 231).
Im Recht der Architekten und Ingenieure ist die Entscheidung des OLG Celle vom 01.04.2020 hervorzuheben, die sich nicht nur mit der Frage der Europarechtswidrigkeit der Mindestsätze der HOAI befasst ( S. 245), sondern klarstellt, dass eine Honorarvereinbarung nicht gem. § 7 Abs. 1 HOAI 2013 unwirksam ist, weil sie auf elektronischem Wege und damit nicht schriftlich geschlossen wurde. Honorarvereinbarungen können also – jetzt auch – per E-Mail wirksam geschlossen werden ( S. 246). Überdies liegt diesem Urteil eine der ersten OLG-Entscheidungen zur Prüfbarkeitsrüge für ab dem 01.01.2018 geschlossene Architekten- und Ingenieurverträge vor. Nach § 650g Abs. 4 Satz 3 BGB gilt die Rechnung als prüfbar, wenn der Auftraggeber nicht innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der Rechnung begründete Einwendungen gegen die Prüfbarkeit erhebt ( S. 247).
Im Vergaberecht ist der Beschluss des OLG Düsseldorf vom 12.02.2020 von besonderer Bedeutung für die Praxis. Denn nach Ansicht des Düsseldorfer Vergabesenats findet die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach bei sich widersprechenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen keine Änderung der Vergabeunterlagen vorliegt, wenn die Vertragsbedingungen des Auftraggebers eine sog. Abwehrklausel enthalten ( IBR 2019, 571), keine Anwendung auf individuelle Formulierungen im Angebotsanschreiben des Bieters ( S. 255).
Auch alle anderen Beiträge empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit.
Mit den besten Grüßen
Ihr
Dr. Stephan Bolz
Rechtsanwalt
Verleger und Schriftleiter der IBR