Bau-, Architekten- und Immobilienrecht.
IBR 10/2019 - Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
„Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre falsch machen“. Dieses angeblich von Kurt Tucholsky stammende Zitat mag vielleicht der bzw. dem einen oder anderen angesichts der Entscheidungen des für das Bauvertragsrecht zuständigen VII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 08.08.2019 und des (bis vor Kurzem noch) für Rechtsstreitigkeiten über Vergabeverfahren zuständigen X. Zivilsenats vom 18.06.2019 durch den Kopf gegangen sein. Seither ist nämlich nichts mehr, wie es einmal war.
So wurde im VOB-Bauvertrag die Höhe der Vergütung bei Mengenmehrungen sowie geänderten und zusätzlichen Leistungen – gefühlt seit einer Ewigkeit – auf Basis der (Ur-)Kalkulation des Auftragnehmers nach dem Grundsatz „Guter Preis bleibt guter Preis und schlechter Preis bleibt schlechter Preis“ gebildet (z. B. OLG Brandenburg, IBR 2016, 70). Die Idee, die hinter dieser auch als „vorkalkulatorische Preisfortschreibung“ genannten Preisfindungsmethode steht, ist gut und führt in vielen Fällen auch zu zufriedenstellenden Ergebnissen. Denn sie fragt danach, welchen Preis der Auftragnehmer für eine nach Vertragsschluss ausgeführte geänderte oder zusätzliche Leistung angeboten hätte, wenn sie bereits von Anfang an zum vereinbarten Leistungsumfang gehört hätte. Dieser würde sich, gleich ob gut oder schlecht kalkuliert, sicherlich auf dem Vertragspreisniveau bewegen. Bietet der Auftragnehmer allerdings besonders günstig an und nimmt er – etwa aus akquisitorischen Gründen – einen gewissen Verlust in Kauf, vergrößert sich dieser, wenn es ohne sein Zutun zu Mengenmehrungen oder geänderten bzw. zusätzlichen Leistungen kommt. Es erforderte deshalb einen gewissen Begründungsaufwand, Ausnahmen vom vorgenannten Grundsatz zuzulassen, um im Einzelfall zu einem „gerechten“ Ergebnis zu kommen (siehe insbesondere OLG Hamm, IBR 2018, 552, und OLG Dresden, IBR 2013, 262). Wenngleich im Schrifttum auch deshalb bereits seit Jahren zum Teil erhebliche Kritik an der vorkalkulatorischen Preisfortschreibung geübt wurde (so z. B. von Franz, BauR 2012, 380 ff.), hielt die überwiegende Praxis nach dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht“ beharrlich an ihr fest (z. B. OLG Dresden, IBR 2018, 63; siehe aber KG, IBR 2018, 490).
Darüber, ob die herrschende Sichtweise weiterhin Bestand haben würde, wurde seit dem BGH- Urteil vom 07.03.2013 spekuliert. In dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, „dass § 2 Nr. 6 Abs. 2 VOB/B in der Weise anzuwenden ist, dass die Vergütung aus dem vereinbarten Preis einer vergleichbaren Position des Leistungsverzeichnisses abzuleiten ist (…)“, wenn „dies (…) dem übereinstimmenden Verständnis der Parteien“ entspricht ( IBR 2013, 332). Diese Formulierung wurde bisweilen als „Abgesang“ auf die vorkalkulatorische Preisfortschreibung verstanden.
In diesem Zusammenhang hat der Bundesgerichtshof nunmehr entschieden, dass in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht geregelt ist, wie die Vergütungsanpassung bei Mengenmehrungen vorzunehmen ist, wenn keine Einigung über den neuen Einheitspreis zu Stande kommt. Die Regelung gibt nur vor, dass bei der von den Parteien zu treffenden Vereinbarung über den neuen Preis Mehr oder Minderkosten zu berücksichtigen sind ( S. 535). Haben sich die Parteien nicht insgesamt oder im Hinblick auf einzelne Elemente der Preisbildung geeinigt, enthält der Vertrag eine Lücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen ist. Dabei entspricht es der Redlichkeit und dem bestmöglichen Ausgleich der wechselseitigen Interessen, dass durch die unvorhergesehene Veränderung keine der Vertragsparteien eine Besser- oder Schlechterstellung erfahren soll. Die im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien ergibt, dass - wenn nichts anderes vereinbart ist - für die Bemessung des neuen Einheitspreises bei Mehrmengen die tatsächlich erforderlichen Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge maßgeblich sind ( S. 536). Das dürfte angesichts des identischen bzw. ähnlichen Wortlauts von § 2 Abs. 5 und 6 VOB/B wohl auch für geänderte und zusätzliche Leistungen gelten.
Das Vergaberecht wird vielfach nicht nur als unübersichtlich, sondern auch als übertrieben formalistisch angesehen. So wurde z. B. die Formulierung in einem freundlich gemeinten Angebotsanschreiben, wonach sich der Angebotspreis "zuzüglich der zum Zeitpunkt der Abnahme (statt zum Zeitpunkt der Leistungsbewirkung) gültigen Mehrwertsteuer" versteht, als zum zwingenden Ausschluss führende Änderung an den Vergabeunterlagen angesehen (VK Sachsen, IBR 2005, 277). Zu den „Klassikern" der in diesem Zusammenhang vermeidbaren Bieterfehler gehörte die Verwendung eines Anschreibens, das auf die eigenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen verwies (VK Sachsen-Anhalt, IBR 2015, 276).
Dem hat der Bundesgerichtshof nunmehr einen Riegel vorgeschoben. Sehen die Vergabeunterlagen eines öffentlichen Auftraggebers vor, dass etwaige Liefer-, Vertrags- und Zahlungsbedingungen des Auftragnehmers nicht Vertragsbestandteil werden, und stellt ein Bieter mit seinem Angebot abweichende Zahlungsbedingungen, können diese infolge der Abwehrklausel des Auftraggebers im Falle der Auftragserteilung keine rechtliche Wirkung entfalten. Ein Ausschluss des Angebots wegen Änderungen an den Vergabeunterlagen ist nicht erforderlich und nicht zulässig. Aber auch ohne eine Abwehrklausel kann ein Angebot, dem der Bieter eigene Vertragsbedingungen beigefügt hat, in der Wertung verbleiben, wenn nach bloßer Streichung des Hinzugefügten ein dem maßgeblichen Inhalt der Vergabeunterlagen vollständig entsprechendes Angebot vorliegt. Nur eine solche Sichtweise entspricht dem mit der VOB/A 2009 vollzogenen Wertewandel, wonach die Anzahl der wertbaren Angebote nicht mehr unnötig wegen nicht gravierender formaler Mängel reduziert werden soll ( S. 571).
Auch alle anderen Beiträge empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit.
Mit den besten Grüßen
Ihr
Dr. Stephan Bolz
Rechtsanwalt
Verleger und Schriftleiter der IBR