ibr-online Blog-Eintrag

Wir könnten es ...

Reinhold Thode schimpfte einst über eine in der Bauszene, vor allem bei Unternehmen, ihren klientelorientierten Rechtsberatern und bei Baubetrieblern verbreitete Wunschvorstellung, dass alle aufgrund von Bauzeitverzögerungen entstandenen Mehrkosten vom Auftraggeber zu ersetzen sind; ZfBR 2004, 214. Man muss die Schärfe in seinem Beitrag nicht teilen. In der Sache war und ist darin aber vieles Achtens- und Beachtenswertes. Ohne es zu benennen: Im Brennpunkt von Thodes Auseinandersetzungen stand die Soll'-Methode (sprich: soll strich) als Mittel der Nachweise von bauzeitlichen Ansprüchen des Auftragnehmers, eine Methode mit Fiktionen ersten und zweiten Grades und geradezu abenteuerlichen Schlussfolgerungen.

Ich gehe darauf hier nicht weiter ein. Das ist hinlänglich geschehen; siehe etwa Drittler, Nachträge und Nachtragsprüfung, ibr-online, Stand 22.01.2020, Rdn. 4:331 ff.

Was bei Thode (a.a.O.) im Brennpunkt stand, ist - bis heute! - gleichwohl nicht "verbrannt". Die Literatur ist voll davon. Die Praxis auch - und scheitert grandios!

Dabei können wir es. Besser: Wir könnten es. Denn bei all den Klarstellungen durch den BGH - wir wissen: In der Störungsmodifikation ist die Wirklichkeit nachzubilden. Das was wirkt, die Wirklichkeit. Es muss tatsächlich gewirkt haben. "Konkret" ist nur ein anderes Wort dafür. Andreas Lang spricht deshalb zutreffend vom Wirklichkeitsprinzip. Ein modellhaftes Vorgehen wie in der Soll'-Methode leistet dieses nicht. Herauskommen unzulässig abstrakte Ergebnisse; siehe etwa OLG München, IBR 2017, 488 (Mechnig), IBR 2017, 489 (Drittler) oder KG, IBR 2010, 437 (Schulz), dazu mein Blog-Eintrag hier bei ibr-online.de vom 13.07.2010.

Wir dürfen uns erinnern:

Die Soll'-Methode setzt identisch im ersten Teil des Äquivalenzkostenverfahrens an, einer Methode, die nach anfänglichen Erfolgen bis zum Kammergericht hoch im Jahr 1986 letztlich vom BGH als unzulässig abstrakt abgelehnt worden ist. Beide Methoden modellhaft und mit dem Ergebnis ihrer Störungsmodifikationen Bauabläufe und Bauzeiten aufzeigend, die glatt an der Wirklichkeit vorbei gehen, unterscheiden sich lediglich in ihren zweiten Teilen bei den Schlussfolgerungen. Während im Äquivalenzkostenverfahren der hypothetische und durch nichts bewiesene Schluss gezogen wird, die unter der Wirkung relevanter Behinderungen bei Annahme eines "Dienstes nach Vorschrift" (Arbeit nach Vertragsterminplan) errechnete, aber nicht tatsächlich beanspruchte Bauzeitverlängerung bilde mit ihren Zusatzkosten ein Äquivalent für Nachteile des Auftragnehmers aus Beschleunigung und Produktivitätsverlust, wird bei Anwendung der Soll'-Methode am Ende eine ebenso schlichte Behauptung aufgestellt: Das theoretisch errechnete Verzögerungsmaß sei für die Ansprüche des Auftragnehmers maßgebend, wenn die theoretische Gesamtverzögerung des Soll'-Bauablaufs nicht größer als die tatsächlich eingetretene Gesamtverzögerung ist. Oder: Wenn die Gesamtverzögerung nach Soll'-Bauablauf größer als die tatsächliche ist, sei die frühere Ist-Fertigstellung als Nachweis für den Erfolg eingeleiteter Beschleunigungsmaßnahmen zu werten. Zwei Methoden, die im ersten Teil identisch abstrahieren, und sich in ihren Schlussfolgerungen in abstruse Höhen übersteigern.

Seine Anforderung, es sei konkret und nicht in einem abstrahierenden Modell nachzuweisen, hat der BGH später in zwei Entscheidungen in den Jahren 2002/2005 präzisiert: Der Nachweis eines Anspruchs auf Bauzeitverlängerung ist konkret und mit Bezug zum tatsächlichen Bauablauf - konkret bauablaufbezogen - zu führen. "Konkret" ist ein Nachweis des Anspruchs auf Bauzeitverlängerung, wenn er zeigt, was unter einer Behinderung (alle Ereignisse aus Risikobereich des Auftraggebers, des Auftragnehmers oder von keiner Seite mit ihren Folgen zu verantwortende) tatsächlich wirkte. Und "bauablaufbezogen" ist eine Darstellung, welche den tatsächlichen Angriffspunkt im Ist-Bauablauf und die tatsächliche Wirkung einer Behinderung im Bauablauf aufzeigt. Darin sind keine durch Rechtswissenschaft und Baubetriebslehre geisternden "fast schon mystischen Zauberwort[e]" zu sehen, wie von Jan-Hendrik Kues wahrgenommen; NZBau 2018, 505 f. Regelmäßig schwierig und bisweilen auch quälend aufwendig können konkret bauablaufbezogene Nachweise sein. Sie sind aber kein Zauberwerk.

In Anlehnung an die Differenzhypothese aus dem Schadensrecht (§ 249 Abs. 1 BGB) sind in der konkret bauablaufbezogenen Darstellung im zeitlichen Umfeld der in den Fokus genommenen Behinderung (Einzelfallprinzip) die zwei Bauabläufe mit und ohne das behindernde Ereignis zu zeigen. Nur der Vergleich dieser (notwendigerweise) konkreten Bauabläufe mit und ohne das behindernde Ereignis zeigt die tatsächliche Wirkung des ins Auge gefassten Ereignisses. Das Konkrete kann und muss dargelegt werden, indem nach jedem Schritt der Ablaufmodifikation das Ergebnis der Modifikation am Ist des Bauablaufs (Ergebnis des tatsächlichen Geschehens) geprüft und validiert wird. Dabei können sich weitere Einflüsse auf den Bauablauf zeigen. So kann etwa erkennbar werden, dass der Auftragnehmer zu langsam oder auch schneller als geplant (verdeckter Puffer) gearbeitet hat.

Wir könnten es also, nur eben nicht mit der Soll'-Methode. Es gibt interessante Ansätze mit wegweisenden Lösungsideen, Ansätze, welche mehr oder weniger Details aus der verbreiteten Kritik an der einschlägigen baubetrieblichen Methodenlehre aufgreifen, insbesondere aus der Fundamentalkritik Thodes (a.a.O.):

  1. Störereignis für Störereignis in notwendigerweise schrittweisem Vorgehen in einer konkret bauablaufbezogenen analytischen Nachbildung des Baugeschehens zeige ich ein Konzept in strenger Anlehnung an die Forderungen der BGH-Rechtsprechung; wohl am wenigsten modellhaft und zugleich dicht an die Wirklichkeit herankommend, ein Konzept der Kausalitätsnachweise, einzelfallbezogen im tatsächlichen Bauablauf bei schrittweiser Validierung der Modifikationen durch Vergleich mit dem Ist; Drittler, Jahrbuch Baurecht 2006, 237.

  2. In der einzelfallbezogen, schrittweisen und zeitlich weitgehend im tatsächlichen Umfeld einer Behinderung konkret bauablaufbezogenen Analyse gestörter Bauabläufe ein Bauzeit- und Pufferkonto zum Sammeln von Maßen an vom Auftragnehmer beanspruchbarer Bauzeitverlängerung und geplanter wie auch herausgearbeiteter Puffer (Zeitreserven) sowie verbrauchter Puffer mitführend Lang, vorgestellt in Jahrbuch Baurecht 2011, 41, an anderer Stelle ausgebaut zum mehrstufigen Nachweisverfahren unter Berücksichtigung des tatsächlichen Bauablaufs.

    Ähnliches Konzept, vorgestellt als s. g. Adaptionsverfahren; Mechnig et al., NZBau 2014, 85.

    Beide Konzepte hoch entwickelt; einzig: sie nehmen nur in den Risikobereich des Auftraggebers fallende Störungen in den Blick, nicht all die anderen, welche das Maß der tatsächlichen Bauzeit mitbestimmen können. Es wäre erforderlich, auch sie in die Analyse mit aufzunehmen, denn Startverschiebung an einem Vorgang, dessen Unterbrechung und schließlich dessen Verlängerung lassen nicht nur einen Rückschluss auf die Leistungsbereitschaft des Auftragnehmers zu (zutreffend Mechnig), sondern können bspw. auch auf Behinderungsereignisse, die von keiner der beiden Parteien verursacht worden sind, oder auch auf Unzulänglichkeiten in der Ablaufplanung oder der zwischenzeitlichen Änderung der Ablaufplanung beruhen.

  3. Interessant auch das Bauablauf-Differenzverfahren nach Heilfort; BauR 2010, 25; BauR 2003, 457. Dem Verfahren ist - wie allen oben erwähnten - zugute zu halten, dass der einzelne Modifikationsschritt zu einem Behinderungsereignis - grundanders als in der Soll'-Methode - im Ist der Bauabwicklung und dort im Zeitpunkt des tatsächlichen Angriffs im Bauablauf ansetzt. Im Weiteren wird dann aber eine Zeitwirkung der gerade im Analysefokus befindlichen Behinderung schlicht durch störungsmodifizierte Fortschreibung unter der Annahme eines Dienstes nach Vorschrift des geplanten Bauablaufs abgeschätzt, ohne das Ergebnis am Ist des Bauablaufs zu überprüfen. So können unerwünschte Abstraktionen entstehen, wenngleich nicht in Umfängen wie bei Anwendung der Soll'-Methode.
Alle hier angesprochenen Konzepte sind in vertiefter Auseinandersetzung und Weiterentwicklung geeignet, eine Methode entstehen zu lassen, welche die Anforderungen der BGH-Rechtsprechung erfüllen kann. Wenn die Entwickler zusammenrücken, dabei Eitelkeiten und die Macht ihres jeweiligen Egos zurücktreten lassen - ich schließe mich nicht aus -, kann Gutes gelingen.



Dr.-Ing. Matthias Drittler
(erstellt am 20.01.2020 um 09:47 Uhr)

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