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J'accuse!

... sogenanntes "Recht", das von einer "Mini-Arbeitsgruppe" die höchstrichterliche Rechtsprechung vorbereitend rechtspolitisch geformt worden ist? Es gibt dafür Anhaltspunkte. Ich beginne mit dem Ergebnis.
Der Entschädigungsanspruch des Nachfolgeunternehmers aus § 642 BGB richtet sich bestenfalls auf Nachteile, die ihm während der "Dauer des [Annahme]Verzugs" des Bestellers entstehen? Ja, der Anspruch umfasst jedenfalls nicht die Mehrkosten, die dem Unternehmer nach der Beendigung des Annahmeverzugs bei Ausführung der verschobenen Werkleistung anfallen, so lautet bekanntlich BGH "Entschädigungsdauer" vom 26.10.2017 -- VII ZR 16/17, BauR 2018, 242. Es kann nicht oft genug hinausgerufen werden: Allein mit dieser Entscheidung zeigte sich bereits eine Ungerechtigkeit in der rechtlichen Sicht auf § 642 BGB in seiner Anwendung auf #Bauablaufstörungen. Und das war noch längst nicht alles! Erst danach kam es richtig dick mit BGH "Entschädigungshöhe" vom 30.01.2020 -- VII ZR 33/19, NZBau 2020, 362.

Beide Entscheidungen haben eine besonders einschneidende Wirkung für einen Unternehmer gegenüber dem Besteller, wenn eben dieser Besteller bei der Abwicklung eines Bauvertrags eine vorausgehende Leistung eines Unternehmers (#Vorunternehmer), auf der der nachfolgende Unternehmer (#Nachfolgeunternehmer) mit seiner Leistung aufbaut, nicht rechtzeitig baufrei hatte -- Schadensrecht aus § 280 BGB, § 6 Abs. 6 VOB/B nicht anwendbar.

Mit BGH "Entschädigungsdauer" geht ein von Annahmeverzug, einem klar im Risikobereich des Bestellers liegenden Behinderungsereignis, betroffener Unternehmer/Nachfolgeunternehmer zwar nicht ganz leer aus -- er wird für Nachteile entschädigt, die ihm innerhalb des Zeitraums des Annahmeverzugs entstehen. Der Unternehmer bekommt aber nicht die Nachteile aus Bauzeitverlängerung und Bauleistungsverschiebung entschädigt, auch wenn für sie nachweislich das Behinderungsereignis "Annahmeverzug" kausal ist. Für den Zeitraum nach Beendigung des Annahmeverzugs ist damit das Dilemma des Nachfolgeunternehmers aus BGH "Vorunternehmer I" vom 27.06.1985 -- VII ZR 23/84 (BauR 1985, 561) -- nicht aufgelöst. Die alte Wunde aus BGH "Vorunternehmer I" war -- und ist bis heute! (Stand 2024) -- nach vorübergehender Entspannung durch BGH "Vorunternehmer II" vom 21.10.1999 -- VII ZR 185/98 (NZBau 2000, 187) -- und die in Literatur und Rechtsprechung verbreitete Sicht auf die Rechtsfolgen bei Annahmeverzug (schadensersatzähnliche Abgeltung von Nachteilen) -- weitgehend wieder offen. Der Nachfolgeunternehmer kann jetzt zwar grundsätzlich für während des Annahmeverzugs durch verzögerte Vorunternehmerleistung entstandene Nachteile entschädigt werden. Er bekommt aber unter § 642 BGB keine Entschädigung seiner weitergehenden Nachteile, die ihm nach dem Ende des Annahmeverzugs entstehen, Nachteile, die oft noch weit größer sind als jene, die ihm während der Dauer des Annahmeverzugs entstehen.

So wuchsen die Zweifel an der Eignung des § 642 BGB zur wenigstens annähernd gerechten Regelung der Nachteile des Nachfolgeunternehmers, wenn dieser durch Verspätungen der Leistung eines Vorunternehmers behindert ist.

Trotzdem setzte der BGH mit "Entschädigungshöhe" (a.a.O.) noch eins drauf. Denn wenn auf Nachteile während des Annahmeverzugs gesehen wird, zeigt sich:

Nicht einmal sie sind vollständig Gegenstand einer Entschädigung.
Sondern entschädigt werden soll dem Nachfolgeunternehmer lediglich jenes, das er aufwendet, um seine Leistungsbereitschaft während des Annahmeverzugs aufrecht zu halten. Dafür hat der Nachfolgeunternehmer festzustellen, inwieweit er während der Dauer des Annahmeverzugs Produktionsmittel unproduktiv bereitgehalten hat; BGH "Entschädigungshöhe" (a.a.O.), Rn. 54 - 57. Das sollen lt. Althaus, dessen Ansicht der BGH -- auch nach Glöckner, BauR 2014, 368, 375 (unmittelbare Kosten) -- scheinbar folgt, die annahmeverzugsbedingt leerlaufenden Arbeitspotenziale (Frauen, Männer, Geräte) sein; NZBau 2018, 643 f. Diesen, so der BGH sinngemäß weiter, sei jener Teil der vereinbarten Gesamtvergütung zuzuordnen, den die leerlaufenden Arbeitspotenziale ohne den Annahmeverzug erarbeitet hätten.

Entschädigt werden solle der Unternehmer grundsätzlich nur für die Bereithaltung von Produktionsmitteln. Das ist gut einsichtig. Was aber ist mit dem Begriff "Produktionsmittel" erfasst? Die enge und wirklichkeitsfremde Sicht darauf mit Arbeitspotenzialen / unmittelbaren Kosten der Leistungsbereitschaft umschreibt den Begriff jedenfalls nicht.

Mit Produktionsmitteln bei Vortrag nur von Arbeitspotenzialen ist dies eine Sicht auf § 642 BGB, mit welcher dem Nachfolgeunternehmer allenfalls ein ausgesprochen kleiner Anteil seiner wirklichen Nachteile aus der Bereithaltung seiner Produktionsmittel entschädigt wird. Auf die Idee, dass der Nachfolgeunternehmer während des Annahmeverzugs grundsätzlich seinen ganzen Betrieb für die annahmeverzugsbedingt behinderte Leistung bereithält, ist wohl niemand gekommen, obwohl das evident ist. Eine Idee, die nur geringe betriebswirtschaftliche / baubetriebliche Kenntnis verlangt; siehe dazu meine gedanklichen Ansätze zur möglichen und m.E. erforderlichen Korrektur an den vorgeblichen Schranken des § 642 BGB und (fast) kein Ende an verbreiteten Irrsichten darauf.

Ich gehe noch einmal zurück zur Grundentscheidung "Entschädigungsdauer" aus dem Jahr 2017.

Die Leitgedanken der späteren BGH-Entscheidung "Entschädigungsdauer" sind bereits in der ersten Hälfte der 10er Jahre des laufenden Jahrhunderts in der damals in Freiburg aktiven "Mini-Arbeitsgruppe", (so später bezeichnet von Glöckner, BauR 2021, 327, 328) erarbeitet worden; siehe Ergebnisse in Glöckner, BauR 2014, 368, Leupertz, BauR 2014, 381, Sienz, BauR 2014, 390. Schon damals konnte der Beobachter aufnehmen, was der BGH nahezu inhaltsgleich übernahm. Danach sollte gelten und gilt seit BGH "Entschädigungsdauer" bis heute:
§ 642 BGB gewährt dem Unternehmer eine angemessene Entschädigung für das nutzlose Bereithalten von Produktionsmitteln für die Herstellung des Werkes während der Zeit des Annahmeverzugs des Bestellers infolge Unterlassens einer diesem obliegenden Mitwirkungshandlung. Von dem Entschädigungsanspruch sind keine Mehrkosten umfasst, die nicht während des Annahmeverzugs, sondern erst bei Ausführung der verschobenen Werkleistung entstehen. Es ist ein Anspruch eigener Art, auf den die Vorschriften des Schadensersatzes (§§ 249 ff. BGB) nicht anwendbar sind. Die Höhe eines Entschädigungsanspruchs aus § 642 Abs. 2 BGB bestimmt sich nach der Höhe der vereinbarten Vergütung und umfasst auch die in dieser Vergütung enthaltenen Anteile für Wagnis, Gewinn und Allgemeine Geschäftskosten.
Auch dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, wenn die Schöpfer dieser Sicht auf § 642 BGB sich nicht von offensichtlich sach- und rechtsfernen Motiven hätten leiten lassen. So warnte Glöckner davor, bei der Ermittlung der Kosten für die Erhaltung der Leistungsbereitschaft,
"die prozeduralen Vorteile" der Lösung "aufs Spiel zu setzen, indem gleichsam das negative Interesse -- wiederum nach schadensrechtlichen Grundsätzen und mit allen damit verbundenen Problemen -- mit der Entschädigung" gleichgesetzt wird; siehe BauR 2014, 368, 375.
Glöckner weiter:
"Die die Praxis beherrschenden Prozessschlachten mithilfe baubetrieblicher Gutachten im Hinblick auf die geforderte bauablaufbezogene Darstellung der Behinderungen würden damit überflüssig."
Kaum ein Schelm, der damit versteht:
Baubetriebliche Gutachten mit ihren bauablaufbezogenen Darstellungen der Behinderungen bereiten Schwierigkeiten. Also wird das Recht so gedeutet, dass gewisse prozedurale Vorteile nicht aufs Spiel gesetzt werden?
Wo -- bitte! -- sind die Juristen, die eine Wendung in der Rechtsprechung herbeiführen?

J'accuse!

"Anzuklagen" (accuser) ist in erster Linie ein Justizirrtum aus dem Jahr 1985. BGH "Vorunternehmer I" vom 27.06.1985 (a.a.O.) setzte den Beginn einer kaum zu fassenden Verwüstung der Rechtslage bei gestörten Bauabläufen, eine Entscheidung mit einem
als "[zitat]dramatisch ungerecht empfundenes Ergebnis[/zitat]" (Kniffka). BGH "Vorunternehmer I" stellte einen Nachfolgeunternehmer gegenüber dem Besteller zunächst völlig rechtlos, wenn eben dieser Besteller bei der Abwicklung eines Bauvertrags eine vorausgehende Leistung eines Vorunternehmers, auf der der Nachfolgeunternehmer mit seiner Leistung aufbaut, nicht rechtzeitig baufrei hatte. Mit BGH "Vorunternehmer II" und der Entdeckung des § 642 BGB für die Anwendung im gestörten Bauablauf hat die Rechtsprechung das Unrecht für den Nachfolgeunternehmer nur scheinbar zum Recht gewendet. Denn die jüngere Rechtsprechung löste den Schein mit BGH "Entschädigungsdauer" (a.a.O.) und BGH "Entschädigungshöhe" (a.a.O.) auf. Die (Un)Rechtstellung des Nachfolgeunternehmers durch BGH "Vorunternehmer I" änderte sich nicht wesentlich. Es kann gar der Eindruck entstehen, dass sogenanntes "Recht" rechtspolitisch geformt worden ist. Ein "Recht", durch das unsere zweifellos mit den gestörten Bauabläufen insbesondere mit Blick auf die anspruchsausfüllenden Kausalitäten heillos überforderten Zivilgerichte geschützt werden sollten.

Wo sind die Juristen, die eine Wendung in der unerträglichen (Unrecht)Sprechung zum gestörten Bauablauf herbeiführen?



Dr.-Ing. Matthias Drittler
(erstellt am 04.10.2024 um 09:47 Uhr)

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