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§ 650c BGB und sein recht wild wachsendes Verständnis

Aus der, zumal der renommierten Vortragspraxis können Sätze wie dieser aufgenommen werden: Bei den gesetzlichen Preisregeln zu einer entsprechend § 650b Abs. 2 BGB vom Besteller (kurz: B) angeordneten Leistungsänderung gehe es nicht um die kalkulierten, sondern um die tatsächlichen Kosten (Selbstkostenerstattungsnachtrag). Ein kerniger wie zutreffender Satz! Fragwürdig, gar befremdlich dagegen: "Tatsächliche Kosten" und "Vorkalkulatorik" seien im Grunde das Gleiche.

Ein Referent (kurz: R) trägt - noch zutreffend - vor, der BGH habe im Urteil vom 08.08.2019 (VII ZR 34/18) zur Bildung des neuen Einheitspreises bei einer Mehrmenge oberhalb der 110 %-Grenze festgestellt, wie der neue Preis zu bilden ist, sei in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht geregelt. Die Lücke sei im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien nach Treu und Glauben zu schließen. Daraus ergebe sich, dass - wenn nichts anderes vereinbart ist -

"für die Bemessung des neuen Einheitspreises bei Mehrmengen im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B die tatsächlich erforderlichen Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge maßgeblich sind."
Soweit nachvollziehbar. Dazu wird im Vortrag aber weiter erklärt, diese Sicht auf § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B sei auf die Preisbildungen nach § 2 Abs. 5, 6 VOB/B übertragbar. Das mag sein, ist aber höchstrichterlich längst nicht geklärt. Gleichwohl möchte ich dem gedanklichen Faden weiter folgen. Gehen wir also mit auf die Reise des R.

Die Begründung des BGH treffe nicht zu, so R. Bereits aus § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B selbst ergebe sich, die Vergütung sei mit den tatsächlich erforderlichen Kosten anzupassen und nicht aus der Kalkulation des Unternehmers (kurz: U). Eine für sich bereits recht einsam dahingestellte Auffassung. Und R weiter: "Tatsächliche Kosten" und "Vorkalkulatorik" seien im Grunde das Gleiche. Spätestens das löst Befremden aus, ist es doch Allgemeingut, dass vorauskalkulierte Kosten geschätzte Kosten sind, die sich beim Einkauf von Materialien und Nachunternehmerleistungen bzw. bei der Ausführung allenfalls zufällig als den tatsächlichen Kosten gleich erweisen. Tatsächliche Kosten und vorkalkulatorische Kosten weichen regelmäßig mehr oder weniger, teilweise gar erheblich, voneinander ab. Ich denke dabei noch gar nicht an spekulative Preisgestaltungen.

Damit nicht genug: Weil (vorgeblich) "Tatsächliche Kosten" und "Vorkalkulatorik" im Grunde das Gleiche seien, so R, wird für den Fall einer vom B angeordneten Leistungsänderung ein Zahlenbeispiel entwickelt, in dem die Mehr- oder Minderkosten, im Beispiel die Mehrkosten, in alter Treue zur Korbion'schen Preisformel unter Beibehaltung des Vertragspreisniveau-Faktors (Kapellmann/Schiffers) aus den Grundlagen des alten Preises abgeleitet werden.

Wie ist das heute vor dem Hintergrund des Gesetzes (§ 650c Abs. 1, 2 BGB) noch möglich!?

Es wird in dem Beispiel des R nicht, wie wir es aus § 650c Abs. 1 BGB und seinen vom Gesetzgeber mitgegebenen Erläuterungen (BT-Drucksache 18/8486) kennen, bei der Ermittlung des veränderten Aufwands nach dem "Tatsächliche-Kosten-Prinzip"
die Differenz zwischen den hypothetischen Kosten, die ohne die Anordnung des Bestellers [ohne das Änderungsereignis; Erg. Autor] entstanden wären [hypothetische Kostenlage; Erg. Autor], und den Ist-Kosten, die aufgrund der Anordnung tatsächlich entstanden sind
gebildet. Nein, nach der vorgetragenen Ansicht des R soll, wie nach der Korbion-Klassik, der alte Preis sozusagen aufgemacht und es soll in seine Urkalkulation hineingegriffen und das daraus Herausgeholte linear fortgeschrieben werden. Lineare Preisniveaufortschreibung soll sein, gleich ob der betreffende Preisfaktor auskömmlich, überauskömmlich ("gut") oder nicht auskömmlich ("schlecht") ist!?

Der Leser mag mein Erstaunen wahrnehmen.

Der neue Preis soll nach der Korbion-Klassik aus dem alten Preis entwickelt werden, weil - nach der Wahrnehmung des R - "Tatsächliche Kosten" und "Vorkalkulatorik" im Grunde das Gleiche sind?

Ob R vielleicht denkt, auch wenn er es nicht klar mitteilt, dass § 650c Abs. 2 BGB einem U genau diesen Weg, den Weg der "Vorkalkulatorik", als Möglichkeit weist? Das hätte etwas für sich, denn der Gesetzgeber sagt in Abs. 2 in der Tat:
"Der Unternehmer kann zur Berechnung der Vergütung für den Nachtrag auf die Ansätze in einer vereinbarungsgemäß hinterlegten Urkalkulation zurückgreifen."
Es werde vermutet, dass die auf Basis der Urkalkulation fortgeschriebene Vergütung der Vergütung nach Abs. 1 entspreche.

Das heißt aber keineswegs, dass "'Tatsächliche Kosten' und 'Vorkalkulatorik' im Grunde das Gleiche sind".

Den Gesetzesinhalt verkürzende Ansichten, wie die des R, könnten der über § 650c Abs. 2 BGB weiterhin gut möglichen spekulativen Preisgestaltung, wie etwa durch die sog. Mischkalkulation, im kleinen, weniger entdeckbaren, aber mit vielen Ansätzen und darüber potenziell "erfolgreichen" Preisgestaltung Vorschub leisten. Zwar weiß gerade der U - vor allen anderen - höchst selbst, dass ihm die Möglichkeit zur "Preisgestaltung zugunsten seines Vorteils" weiterhin gelassen bleibt. Den Schöpfern des rein gedachten § 650c Abs. 1 BGB, hilft es dabei nicht weiter, zu hören, in Abs. 2 werde, was richtig ist, der Grundsatz aus Abs. 1 nur pragmatisch umgesetzt, ohne den Grundsatz des Abs. 1 aufzugeben; dogmatisch besehen sei der Maßstab hier wie da der gleiche (Leupertz in Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, 3. Aufl. 2018, BGB § 650c Rn. 8). Dogmatik vermag die Ambivalenz des Gesetzes jedoch nicht zu überwinden, den Möglichkeiten eines U zu gewissen Preisgestaltungen bleiben weiterhin Tür und Tor offen.

Das darf freilich keine pauschale Ehrabschneidung der Unternehmerschaft sein. Ein U kann durch "Tür und Tor" hindurchgehen. Aber längst nicht jeder tut es. Und wenn der Preiswettbewerb endlich ehrlich und nachhaltig mit auskömmlichen Ergebnissen praktiziert würde, könnte gesehen werden, wie sich auch das "Trickser"-Image der Unternehmerschaft verflüchtigt.

(Fortsetzung folgt)



Dr.-Ing. Matthias Drittler
(erstellt am 07.11.2022 um 18:30 Uhr)

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