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VOB/B quo vadis II - Entschädigung: DVA schließt Gerechtigkeitslücke nicht

Die Rechtsprechung hat den Ausgleich von Nachteilen des Auftragnehmers aus Behinderungen aus dem Risikobereich des Auftraggebers durch Gesetzesauslegung stark eingeschränkt. So werden Mitwirkungshandlungen des Auftraggebers als bloße Obliegenheiten eingestuft. Das schränkt die Rechte des Auftragnehmers besonders einschneidend ein, wenn - wie nach meiner Einschätzung in etwa dreiviertel (!) aller Behinderungsfälle - der Vorunternehmer verspätet leistet, dies mangels Erfüllungsgehilfeneigenschaft (§ 278 BGB) des Vorunternehmers im Verhältnis zu seinem Auftraggeber von diesem Auftraggeber aber in dessen Verhältnis zum (nachfolgenden) Auftragnehmer nicht wie eigenes Verschulden zu vertreten ist und damit ein Schadensersatzanspruch des Auftragnehmers ausscheidet; BGH "Vorunternehmer I", BauR 1985, 561.

In dieser Fallgruppe bleibt dem Auftragnehmer als Anspruchsgrundlage in der Regel nur § 642 BGB. Darüber kann er seine Nachteile aus Behinderung in zeitlicher Hinsicht aber nur auf die Dauer des Annahmeverzugs anstatt über die gesamte Zeitspanne aller primären und sekundären Behinderungswirkungen begrenzt zur Entschädigung erwarten; BGH "Entschädigungsdauer", BauR 2018, 242, 28, BGH "Entschädigungshöhe", NZBau 2020, 362. Und selbst in diesem den Nachteilsausgleich des Auftragnehmers bereits über die Zeit einschränkenden Ermessenskriterium des § 642 Abs. 2 BGB, der Dauer des Verzugs, soll der Entschädigungsanspruch laut BGH nicht den gesamten Nachteil ausgleichen; zuletzt BGH "Entschädigungshöhe", NZBau 2020, 362, Rn. 52. Ein Nachteil, der - wohlgemerkt (!) - durch die während des Annahmeverzugs nicht ermöglichte Erwirtschaftung der vereinbarten Vergütung bei teilweise weiterlaufenden Kosten entstanden ist. Diese Regelungslücke - verbreitet empfunden als Gerechtigkeitslücke - zu schließen, gilt als die derzeit wohl größte Baustelle im Bauvertragsrecht in Deutschland; Langen, NZBau 2021, 427, 432. Wie und mit welchem Ergebnis diese "Baustelle abgewickelt" wird, bleibt abzuwarten. Insoweit aktiv sind derzeit (u.a.) der Doppelarbeitskreis Ib/X Bauvertragsrecht/Baubetrieb beim Deutschen Baugerichtstag (DBGT) und das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) in seiner Eigenschaft als Vorsitz und Geschäftsstelle des DVA; Deutscher Vergabe- und Vertragsausschuss, zuständig für die Pflege und Fortschreibung der VOB/B.

Das BMI hat dem DVA im Dezember 2020 den Entwurf einer überarbeiteten VOB/B vorgelegt; kurz: VOB/B (E-BMI); abrufbar unter https://www.fib-bund.de/Inhalt/Vergabe/VOB/VOB-B_2020_Entwurf_nichtamtliche_Fassung.pdf und vorgestellt von Jannsen/Fischer, NZBau 2021, 219. Danach wird vorgeschlagen, zwischen rechtmäßigen, auf BauSoll-Modifikationen gerichtete Anordnungen des Auftraggebers und daraus ggf. resultierende Bauablaufänderungen einerseits und anderseits vertragswidrigen Bauablaufstörungen zu unterscheiden. Vertragswidrige Bauablaufstörungen seien beispielsweise solche aus Verzögerung bei einem Vorgewerk oder fehlenden Ausführungsplänen. Während Nachteile des Auftragnehmers [..., die wohl gemeint sind; Anm. Drittler] aus BauSoll-Modifikationen ggf. in die Nachtragsvergütung einbezogen werden sollen, seien jene aus Bauablaufstörungen nicht im Rahmen einer Nachtragsverhandlung zu berücksichtigen, sondern seien als "Behinderungen" ("unter Umständen" - ?) aufgrund Pflichtwidrigkeit des Auftraggebers anzusehen, die nicht das vertragliche Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung berühren. Der ggf. aus derart das Vertragsverhältnis störenden Sachverhalten resultierende Anspruch richte sich dem Entwurf zufolge auf Schadensersatz oder Entschädigung und sei unter § 6 Abs. 6 VOB/B (E-BMI) zu subsumieren. Dabei nehmen es die Verfasser des Entwurfes ausdrücklich hin, dass die

"Schwierigkeiten, die die erforderliche genaue bauablaufbezogene Darstellung der Verzögerung, der eingeschränkte zeitliche Anwendungsbereich des § 642 BGB sowie die restriktive Rechtsprechung zum Vorliegen einer Pflichtverletzung bei der Mitwirkung des Auftraggebers mit sich bringen, im Entwurf bisher nicht adressiert sind."
Nichts durchgreifend Neues also. Als Thinktank geht der DVA weiterhin nicht in Vorlage.

Die Chance, die Position des Auftragnehmers zu stärken, anstatt auf durch die Rechtsprechung gegebene Abgrenzungsregeln zu verweisen, mag zwar nicht vertan sein, ist aber durch den Entwurf der überarbeiteten VOB/B - VOB/B (E-BMI) im Stand 12/2020 - (noch) nicht beim Schopfe gepackt.

Werner Langen regt an, den
"vor der geänderten BGH-Rechtsprechung praxistauglichen Entschädigungsanspruch des Auftragnehmers bei Annahmeverzug des Auftraggebers durch eine ergänzende Regelung dahin klarzustellen, dass nicht nur die Vorhaltekosten während des Annahmeverzugs [tatsächlich regelmäßig noch um Einiges weniger, wenn die vergebliche Vorhaltung der Produktionsmittel, also die Zeit der Leistungsbereitschaft des Auftragnehmers, den Zeitraum des Annahmeverzugs nicht vollständig abdeckt; Anm. Drittler] vom Auftraggeber zu erstatten sind, sondern auch die Mehrkosten des Auftragnehmers infolge des Annahmeverzugs."
Eine solche rechtsgestaltende Erweiterung des § 642 BGB nach der aktuellen BGH-Rechtsprechung zum Annahmeverzug könne
"den größten Schmerz auf Auftragnehmerseite lindern, ohne AGB-rechtlich bedenklich zu sein",
weil eine solche Erweiterung der Auftragnehmerrechte "gerecht" und überhaupt "als AGB zulasten des Verwenders auch sakrosankt" sei; Langen, NZBau 2021, 427, 432.

So ehrenhaft und wichtig der Gedanke auch ist, den größten Schmerz auf Auftragnehmerseite zu lindern: "Sakrosankt"? - Ich spitze zu: Ein unantastbares oder unverletzliches Recht? Welches Recht des Auftragnehmers ist angesprochen? In der Rechtsansicht des § 642 BGB in Literatur und Rechtsprechung hat sich festgesetzt: Eine "angemessene Entschädigung" nach § 642 BGB bietet keinen allumfassenden Schadensersatz, sondern ist verschuldensunabhängiger Anspruch sui generis, auf den die Vorschriften der § 249 ff. BGB, damit u.a. die Differenzhypothese, nicht anwendbar sind; zuletzt BGH "Entschädigungshöhe", NZBau 2020, 362, Rn. 42. Wie kann so ein Weg zurück zu dem "praxistauglichen Entschädigungsanspruch des Auftragnehmers vor der geänderten BGH- Rechtsprechung" führen?



Dr.-Ing. Matthias Drittler
(erstellt am 05.11.2021 um 12:03 Uhr)

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