IMR 2012, 1103 (nur online)
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Hartz-IV-Wohnregelung verfassungswidrig?

1. Die Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum "schlüssigen Konzept" ist nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 - 1 BVL v 1/09, 1 BVL 3/09, 1 BVL 4/09 näher bestimmt worden ist.*)
2. Für die Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenzen fehlt es an einer den prozentualen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.*)
3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff demnach nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geographischen Vergleichsraum liegen.*)

SG Mainz, Urteil vom 08.06.2012 - S 17 AS 1452/09

SGB II § 22 Abs. 1

Problem/Sachverhalt

Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger erhält vom zuständigen Jobcenter Leistungen nach dem SGB II. In den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs werden die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung bezahlt. Nach erfolgter Kostensenkungsaufforderung wird nur noch die vom Jobcenter angemessene Miete von 241,93 Euro statt 465,62 Euro für einen Zweipersonenhaushalt bezahlt. Der ALG-II-Empfänger möchte sämtliche tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 465,62 Euro gewährt erhalten.

Entscheidung

Mit Erfolg! Leistungen für Unterkunft und Heizung werden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Erfasst sind alle Zahlungsverpflichtungen, die sich aus dem Mietvertrag für die Unterkunft ergeben (BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R). Das BSG konkretisiert den Begriff der "Angemessenheit" (unter anderem BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R) in einem mehrstufigen Verfahren. In einem ersten Schritt ist eine angemessene Wohnungsgröße und ein angemessener Wohnungsstandard festzustellen. In einem zweiten Schritt ist ein räumlicher Vergleichsmaßstab zu bilden. In einem weiteren Schritt ist mit Hilfe eines "schlüssigen Konzepts" des Leistungsträgers die Höhe der Kosten für eine angemessene Wohnung zu ermitteln und anschließend zu überprüfen, ob eine abstrakt angemessene Wohnung durch den Hilfesuchenden konkret hätte angemietet werden können. Dabei werden nach den Ausführungsbestimmungen der Länder zu § 10 WoFG festgelegte Wohnungsgrößen berücksichtigt. Diese Ermittlung hält das SG für verfassungswidrig. Nach Überzeugung des SG Mainz sind die Kosten der Unterkunft aufgrund der Angemessenheitsvorbehalte nur dann nicht in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für die Größe und Struktur nach vergleichbaren Haushalten nach geographischem Vergleichsraum liegen. Mithin muss der Leistungsanspruch nur in Fällen offenkundiger Missverhältnisse reduziert werden.

Praxishinweis

Das SG setzt sich ausführlich und auch lesenswert mit den Argumenten des BSG auseinander. Das Urteil des SG Mainz widerspricht dennoch gefestigter Rechtsprechung des BSG als auch sämtlicher Landessozialgerichte und wird wohl von sämtlichen genannten Gerichten ignoriert werden. Gängige Praxis vieler Sozialgerichte ist die Ermittlung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft anhand der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften zur Wohngeldtabelle zuzüglich eine Aufschlags von 10%, sofern kein "schlüssiges Konzept" des Jobcenters vorliegt. Es sollte dennoch versucht werden, für den Leistungsempfänger einen Zuschlag von 20% zu erhalten.

RA, FA für Miet- und Wohnungseigentumsrecht und FA für Sozialrecht Maik Fodor, Friedrichshafen Autorenprofil

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